Skandinavische Mythologie – Teil V: Kvasir, der nordische Herkules
Als Asgards Welt in Flammen stand, setzten sich die zwei verfeindeten Lager zusammen, um Frieden zu schließen. Das Bündnis wurde – symbolträchtig und archaisch zugleich – dadurch besiegelt, dass beide Parteien ihren Speichel in einen gemeinsamen Kessel spuckten. Aus diesem göttlichen Speichel entstand Kvasir – ein Mensch, gezeugt von Göttern.
Doch da er als Mensch mit göttlicher Kraft ausgestattet war und seine "Schöpfer" selbst Götter waren, galt Kvasir fortan als der Weiseste unter allen Wesen, die je gelebt hatten. Ein Halbgott – aber nicht im Sinne eines Herkules, dessen übermenschliche Stärke ihn auszeichnete. Herkules war bei aller Tapferkeit nicht dumm, aber auch nicht allwissend.
Kvasirs Gabe war anderer Natur. In ihm vereinten sich Herz und Verstand auf vollkommene Weise. Was immer er sah, durchdrang er mit einem Blick. Er verstand, was noch unausgesprochen war, und beantwortete sogar Fragen, die noch nicht gestellt worden waren. Eine Fähigkeit, die selbst unter Göttern als außergewöhnlich galt.
Die Menschheit verdankt ihm vieles. Er teilte die Weisheiten der Welt mit den Sterblichen – lehrte sie etwa, mit Netzen zu fischen.
Eines Tages brach Kvasir auf, um alle neun Welten zu bereisen und seine unerschöpfliche Intelligenz überall fruchtbar werden zu lassen.
Sein Ruhm eilte ihm voraus. Wo er erschien – oder auch nicht –, war sein Name bereits bekannt. Man suchte ihn, folgte seiner Spur, nur um ihm Fragen über das Wesen der Welt stellen zu können.
Kvasirs Weisheit kannte keine Grenzen.
Doch wie es in den Mythen oft der Fall ist, erregte das Außergewöhnliche auch Neid: Zwei Zwerge, Galar und Fjalar, ermordeten ihn schließlich – aus Eifersucht auf seine überragende Weisheit.
Aber so weit wollen wir an dieser Stelle noch nicht vorgreifen.

Die Zwerge waren in der nordischen Mythologie zu Recht für ihre wundersamen Werke bekannt. Sie schmiedeten und bauten, und auch Galar und Fjalar fertigten Großartiges – nichts Ungewöhnliches für ihresgleichen. Doch diese beiden waren besonders gerissene Gesellen: Sie wollten die Schöpfungen aller anderen Zwerge übertreffen und sich selbst übertreffen – mit der Erschaffung des sogenannten Dichtermets. Nachdem sie in ihrer kleinen Höhle einen Kessel und zwei Bottiche aufgestellt hatten, machten sie sich auf den Weg und begegneten Kvasir.
Die beiden Zwerge erklärten – nein, nicht, dass ein Dreier ihre liebste Freizeitbeschäftigung sei –, sondern dass es sich um eine höchst vertrauliche Angelegenheit handele, die man am besten in ihrem Heim besprechen sollte.
Kvasir, der naive skandinavische Jesusknabe, ging mit – eine erstaunlich dumme Entscheidung für den weisesten aller Wesen, aber gut, sei's drum. Als er die Schwelle überschritt, bemerkte er die zwei Bottiche und den Kessel. Auf seine Frage, wozu diese dienen sollten, erwiderte Galar höhnisch, dass er wohl doch nicht so klug sei, wenn er das nicht selbst erkennen könne.
Doch im nächsten Moment verstummten beide Zwerge, als Kvasir folgendermaßen sprach:
"Ich denke, wenn ihr klug und zugleich böse wäret, würdet ihr mich töten und mein Blut in den Bottichen sammeln. Dann würdet ihr es im Kessel sanft erhitzen und Honig hinzufügen. So entstünde der Dichtermeth: ein Trank, der dem, der ihn trinkt, den Kopf vernebelt, ihm jedoch zugleich die Gabe der Dichtkunst verleiht. Das Blut des Wissens würde nicht die Mörder rühmen, sondern jene, die durch die Macht der Worte neue Welten erschaffen."
Die beiden Zwerge waren so schockiert, dass Kvasir ihnen die Überraschung verdorben hatte, dass sie aus Rachsucht seine Kehle durchschnitten. Der Trank wurde genau so gebraut, wie Kvasir es vorausgesagt hatte. Und so entstand der Suttung-Met – das Getränk der Dichtung. Auf den Namen "Suttung" kommen wir später noch zurück.
Am nächsten Tag klopften die Götter im Dorf der Kleinwüchsigen an – dort, wo man den Halbgott zuletzt gesehen hatte. Sie fragten: "Na, mein Zwerglein, sag uns, was ist mit Kvasir gestern zur Mittagszeit geschehen?"
Die verschlagenen kleinen Zwerge erwiderten, er sei so klug gewesen, dass er an seiner eigenen Weisheit gestorben sei.
Die Götter wussten darauf nichts zu entgegnen, nahmen den Leichnam des Halbgottes mit nach Asgard.
Bei den Göttern bedeutet der Tod nicht zwingend das endgültige Verschwinden.
Die Zwerge wurden daraufhin von einem Riesenpaar aus Jötunheim besucht – Gilling und seiner Frau, deren Name nicht überliefert ist. Nennen wir sie also Gallang.
Gilling und Gallang waren von Galar und Fjalar eingeladen worden – die beiden standen bei ihnen in der Schuld und wollten diese angeblich mit dem Dichtermeth begleichen. So lautete zumindest der Vorwand. Doch das Schicksal nahm seinen Lauf: Wie zuvor Kvasir, fielen auch Gilling und Gallang der Zwergenlist zum Opfer.
Der Dichtermeth war ausschließlich für jene bestimmt, die von den Zwergen gemocht wurden – was in der Praxis bedeutete, dass nur sie selbst in den Genuss kamen. Sie tranken täglich davon, hielten sich für unfassbar klug und dichteten die ersten sogenannten Sagas – jene uralten Mythen der nordischen Welt. Eine dieser Sagas stellte den Tod von Gilling und Gallang ins Zentrum.
Die Kunde von den beiden verbreitete sich über Wind und Wellen hinweg, und bald erfuhr auch Gillings Sohn davon.
Eines Morgens erwachten Galar und Fjalar in einem Boot – gesteuert von einem Riesen. Es war Suttung, der Sohn Gillings.
Die Zwerge standen nun vor zwei Optionen: von Suttung getötet zu werden – oder ihn zu entschädigen. Wie nicht anders zu erwarten, entschied sich ihr Überlebensinstinkt für Letzteres. Der Dichtermeth ging in Suttungs Besitz über.
Hugin und Munin, Odins Raben, berichten dem Allvater jeden Morgen von allem, was sich in den neun Welten ereignet. Als Odin vom Met erfuhr, wollte er ihn – für die Götter und für sich selbst.
Er machte sich auf den Weg, ausgestattet mit einem Wetzstein und einem Bohrer, und suchte zunächst Suttungs Bruder Baugi (auch Augi genannt) und dessen neun Sklaven auf.
Odin schärfte mit dem Wetzstein die Sensen der Felderarbeiter, hetzte sie gegeneinander auf – woraufhin sie sich gegenseitig töteten.
Als Odin, ganz der skandinavische Matthias Rex, unter dem Namen Bölverk bei Baugi erschien, war dieser bereits in Trauer, da er den Tod seiner Sklaven nicht verstand. Bölverk bot an, deren Arbeit zu übernehmen – im Austausch für einen Schluck aus dem Dichtermeth, den Baugis Bruder besaß.
Der Pakt wurde geschlossen, doch Suttung wollte nicht einwilligen. Er hatte den Trank im Berg Hnitbjörg verborgen und ihn seiner Tochter Gunnlöd anvertraut.
Baugi und Bölverk erklommen den Berg, Baugi bohrte ein Loch – und Odin verwandelte sich in eine Schlange, um sich durch das Loch in den Berg zu schlängeln.
Dort verführte er Gunnlöd drei Nächte lang. Um sein Ziel zu erreichen, schmeichelte er ihr: Wenn sie ihm drei Schlucke vom Dichtermeth gestatte, werde er ihr nach jedem Schluck ein Loblied singen – über ihre Schönheit, ihre Anmut und ihre ... Feuchtigkeit.
So kam es, wie es kommen musste: Drei Schlucke – doch diese genügten, um den Inhalt der beiden Bottiche und des Kessels vollständig zu leeren. Odin war eben Odin.
Nachdem Gunnlöd begriff, dass sie hereingelegt worden war, lachte Odin – verwandelte sich in einen Adler und flog samt Trank nach Asgard.
Suttung, der dies bemerkte, verwandelte sich ebenfalls in einen Adler und verfolgte ihn.
In Asgard wartete man bereits auf ihre Ankunft.
Odin erbrach den Met in drei bereitgestellte Bottiche. Doch Suttung war dicht hinter ihm – und da Odin vom Trank aufgebläht war, entfuhr ihm ein solch infernalischer Durchfallstrahl direkt ins Gesicht seines Verfolgers, dass selbst die Ringe des Saturn davon erbleicht wären.
Von diesem Moment an galt: Wer große Sagas schreibt, hat von dem Met getrunken, den Odin ausgeschieden hatte. Wer jedoch schlechte Gedichte verfasst, der hat aus dem Rest getrunken – dem, was Suttung abbekommen hatte.
Lecker.
So erfüllte sich letztlich die Prophezeiung des weisen Kvasir:
"Das Blut des Wissens wird nicht seine Mörder ehren, sondern jene, die mit der Macht der Worte neue Welten erschaffen."